Abschiedszeit

Schnell hatte sich der Magen verkrampft, der Mund war trocken geworden. Das Atmen viel schwer.
Erst seit wenigen Sekunden, davor war alles normal gewesen. Dann war ein kurzer Ruck zu verspüren gewesen und es wurde still.
Sehr still. Zu still!

Es konnte sich eigentlich nur noch um Sekunden handeln, vermutlich die letzten Sekunden. Enden würde es wahrscheinlich auch mit einem Ruck. Nur würde der viel stärker sein. Was danach noch passieren würde, bekäme sie dann schon nicht mehr mit. Der Anblick des berstenden Metalls, des explosionsartig verbrennenden Treibstoffs,
der im Fluss versinkenden Trümmerteile und der Leichenteile würde ihr erspart bleiben.
Die Gedanken rasten. Ein Blick auf die Uhr.
15:30:07, 15. Januar.

Die Stadt, in der sie sich befand gab die Uhr nicht mit an. War jetzt eh unwichtig. Wann war sie das letzte mal geflogen? Ach ja, vor drei Wochen. Mit ihrem Freund Dennis in die Rocky Mountains zum Skiurlaub. Es waren schöne Tage gewesen. Morgens lange geschlafen, gemütliches Frühstück zu zweit und dann ein aufwendiger Aufstieg. Danach aber herrlich lange Abfahrten vorbei an zugefrorenen Bächen, schönen Tannenwäldchen. Nebenbei konnten sie und Dennis noch viele Tiere beobachten. Dennis! Eine Träne kam ihr ins Auge. Vorgestern hatte sie ihn das letzte mal gesehen, dann war er auf Geschäftsreise gefahren. Amsterdam, Paris und Berlin. Es hätte die Möglichkeit gegeben, dass Sie mitgefahren wäre.
15:30:08 Uhr.

Was würde sie jetzt darum geben diese Möglichkeit genutzt zu haben. Vor ein paar Jahren in Paris hatte sie doch Jean-Luc kennengelernt. Oder hieß er Pascal? Der lustige Franzose, der als einziger auch ein bisschen Englisch sprach. Das th konnte er immer nicht so gut. Aber das war nur eine kurze Sommerbekanntschaft. Zurück in Stamford hatte sie dann Dennis kennengelernt. Er konnte ein paar Worte Französisch. Nur mit den nasalen Lauten hatte er so seine Probleme. Sie dachte an den ersten gemeinsamen Ausflug in die Sümpfe Floridas. Das große Krokodil, das fast ihr Boot versenkt hätte. Der Tourleiter schaffte es gerade noch das Tier zu erlegen… Diese Erinnerungen ließen sie für einen kleinen Augenblick ihre Situation vergessen.
Wieder ein Blick auf die Uhr.
15:30:17 Uhr.

„Fertig machen für den Aufprall!“ Die Stimme war sehr ruhig. Untypisch für die Situation. Wie war Dennis Stimme nochmal? Sie wird sie wohl nie wieder hören. Achja, ein wohlklingender Bass. Die Stimme ihres Sitznachbarn war auch sehr tief. So ähnlich aber doch nicht das selbe.
Dann kamen die Bilder. Schreckliche Trümmerteile, nur noch einzelne Fetzen, abgedeckte Leichen und die Sitze unregelmäßig über eine große Fläche verteilt. Bilder, die man alle paar Monate in Zeitungen sieht. Immer hatte sie gehofft, dass sie das selber nie erleben würde. Und jetzt? Vielleicht noch 2, maximal drei Sekunden.
15:30:21 Uhr.

Immer gab es Tote. Viele Tote! Eher selten Überlebende. Und wenn es auf dem Meer passierte?! Dabei hatte sie noch nie von Überlebenden gehö…
Es ruckte. Sie wurde nach vorn geschleudert. Der Gurt hielt sie schmerzhaft zurück. Dann ruckte es nochmal. Schnell verlor das Flugzeug an Geschwindigkeit. Es war still. Viel stiller als vorher und keine unruhige Stille mehr. Noch war es unsichere Stille. Vorsichtig blickte sie aus dem Fenster. Auf gleicher Höhe mit ihr, der Hudson, weiter hinten am Ufer die Hochhäuser New Yorks.
15:30:27 Uhr.

Die Tränen kamen erlösend. Langsam wurde das Flugzeug evakuiert.

Eine Kurzgeschichte von Johannes Z. D. Mieth; entstanden im Rahmen einer Deutschhausaufgabe im März 2009. Dieses Werk steht unter der by-nc-sa CC-Lizenz und kann hier als PDF heruntergeladen werden.